Theater Zittau konfrontiert Leben und Tod im Poetry Slam

Zittau, 2. November 2017. Von Thomas Beier und Tina Giesenkämper. Ob das nun eher eine Anspielung auf Halloween oder doch auf den Reformationstag sein sollte, bleibt wohl auf ewig unerforscht: Auf der Zittauer Bühne traten, wie im Zittauer Anzeiger angekündigt, in der Poetry Slam Show "dead or alive" recht lebendige gegen ziemlich tote Dichter an. Dank eines glücklichen Händchens bei der Auswahl der Dichter wurde der Abend des 31. Oktobers zu einer Freude für das Publikum im überbesetzten Theaterfoyer, was wiederum den abendlichen Moderator Axel Krüger beflügelte.
Abbildung oben: Das ist Klaus Kinski (tot), der in Gestalt von Gerrard Schueft dahergewandelt kam und sich beängstigend treu blieb.

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Thema: Lesebühnen

Lesebühnen

Lesebühnen sind in Görlitz fester Kulturbestandteil - teils musikalisch unterlegt, teils mit Autoren von vor Ort, teils mit weitgereisten Schreib- und Lesenden.

Auf einer kleinen Bühne, da ist gar lustig sein... Vor allem, wenn der Abend brilliant gelaufen ist. Von links: Mike Altmann, Josephine von Blütenstaub, Lisa Maria Kurzmann, Kerstin Slawek und Caspar Sawade. Nicht im Bild ist Gerrad Schueft, der – völlig in seiner Rolle als Kinski aufgegangen – das Schlussbild des Slams nutzte, das Publikum von hinten zu beschimpfen und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Schon, bevor der Poetry Slam startete, hatte sich im Foyer an den Tischen und eiligst herbeigeschafften Zusatzstühlen als Publikum ein Querschnitt illustrer Gestalten versammelt. Erfreulich: Neben Kindern und Graubärten waren sehr viele jüngere Leute dabei, was eventuell der örtlichen Hochschule vorzuwerfen ist. Aus dem Kultursektor ward die Protagonistin einer ortsbekannten Kult.Kneipe (Tipp: Nach dem Theater ist in der Kneipe!) entdeckt, auch der bis zum Entzug seines Domizils als Görlitzer Stadtpoet bekannte Steven Fabian Bonig verfolgte interessiert, was die Kollegenschar auf der Bühne veranstaltete.

Eröffnet wurde der Abend von Axel Krüger, der ohne Vorwärmphase brillierte, doch zunächst den Erklärbär für des Votingverfahren des Poesiewettbewerbs geben musste. "Zirkusdirektor!", murmelte Bonig und hatte so Unrecht wohl nicht: Schwieriger noch als Raubtiere zu bändigen ist es, Dichter im Zaume zu halten, vor allem, wenn ihnen einen Bühne gegeben ist.

So nahm der Abend, dessen Anliegen ein Wettbewerb zwischen noch lebenden und schon toten Lyrikern war, seinen Lauf (das hält nicht mal der Krüger auf).

Große Namen und ein Kleiner

Dem Einstieg übernahm der in der Slamszene bekannte Görlitzer Kleinpoet Mike Altmann mit einem witzigen Text, in dem Markenbegriffe aus der Welt des Konsums (Warum die den Poetry Slam nicht sponsern, die geben doch Geld für viel unwirksamere Placements aus?) auftauchten.

Die Aufforderung, bei jedem erkannten Begriff dem Platznachbarn auf die Schenkel zu klopfen, ging dem Publikum dann aber doch etwas zu weit; freuen wir uns also auf die Wiedersehen-Kleinanzeigen: Du, blond, attraktiv, hast beim Poetry Slam am 31. Oktober im Theater Zittau neben mir gesessen. Ich habe den ganzen Abend davon geträumt, Dir auf die Schenkel zu klopfen. Würde Dich gern wiedersehen... Merke: Wer nicht klopft zur rechten Zeit, belebt das Anzeigengeschäft.

Moderator Krüger sah sich gar zur Anmerkung veranlasst, das Schenkelklopfen klappe in Görlitz besser. Da sind im Publikum regelmäßig ganz viele Rentner, denen das "Jetzt-oder-nie-Prinzip" altersbedingt deutlicher ist als jüngeren Herrschaften wie in Zittau, die denken mögen: Beim nächsten Mal, aber dann klopfe ich mal so richtig.

Die es hinter sich haben

Doch zu den Toten, die längst nicht mehr klopfen, allenfalls mit den Knochen klappern. Große Namen gelangten auf die Bühne: Rainer Maria Rilke (Kerstin Slawek), Charles Bukowski (Caspar Sawade) und Klaus Kinski (Gerrad Schueft), anders gesagt: verdammt große Schuhe für die imitierenden Poeten.

Slawek hatte es mit ihrem Rilke gegenüber den anderen, nicht gerade für Zurückhaltung bekannten, schwer, wie eben leise Töne im lauten Umfeld zum Untergang neigen, wenn das Publikum nicht sensibel ist. Bei Gerrad Schueft wuchs die Publikumserkenntnis, der habe es doch gar nicht nötig, den Kinski zu spielen: Mit aggressivem Temperament gab der Kinskischueft den "Jesus", bot passend zu dieser Rolle dem Publikum an, in die Fresse zu hauen (Anmerkung der Redaktion: endlich mal) und verschaffte Moderator Krüger einen Höhepunkt, indem er ihn am Schlafittchen packte und über die Bühne zerrte. Das Publikum johlte dazu, es war wohl die bislang sympathischste Krüger-Rolle.

Sawade als Bukowski und damit dritter Pol der Toten-Triade hatte die schwere Aufgabe, die abgrundtiefe Ehrlichkeit des in Deutschland geborenen US-Schriftstellers an den Zittauer Mann resp. die Frau zu bringen. Tatsächlich: "Der ist mir zu versaut!", flüsterte eine Dame zwei Tische weiter, was bei den zwangsläufigen Mithörern dieses Kommentars die Hoffnung aufkeimen ließ, der Schriftsteller sei gemeint und nicht der Bote. Doch wer das Leben wirklich kennt, liebt dieses Zitat aus der deutschen Fassung von Bukowskis "Short of Red-Eye": "... und tat mir 'ne Portion Zigarrenasche ins Bier, damit es nach was schmeckte." Um keinen neuen Bierkrieg auszulösen: Das Bühnenbüchsenbier kam nicht aus Görlitz.
Praxistipp: Wer als Mann eine Beziehung ohne viel Aufwand, aber stilvoll beenden möchte, schickte der ehedem Herzdame keine SMS, sondernd eine CD von Bukowski. Ist die Beziehung dann vorbei, ist es gut, wenn nicht, dann gibt es doch noch eine Chance.

Noch voll im Saft

Lisa Maria Kurzmann profitierte neben ihrem Vortrag vom lokalpatriotischen Zittau-Heimvorteil. Doch so richtig aufmerken ließ die Heldenstädterin Josephine von Blütenstaub, die mit tiefgründiger Ernsthaftigkeit und Eindringlichkeit Menschen in den Mittelpunkt stellte.

Altmeister Altmann beeindruckte in der zweiten Runde, als er in freier Rede gereimte Worte zum Vortrage brachte, die das Zerrbild westlicher Sicht auf die Gegend, die jetzt der deutsche Osten ist, zum Inhalt hatten – eine würdige Redevorlage für den Bundespräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit!

Altmann hat das erstklassig gemeistert, wie eine Veranstaltungsbesucherin aus Münster bestätigte: "Viele im Westen urteilen über den Osten, ohne je dagewesen zu sein. Allerdings finden ihre Vorurteile immer wieder Nahrung. Altmann hat brilliant die oft so empfundene Arroganz der Wessis, die mit dem Gefühl der Ossis, zurückgesetzt und zweiter Klasse zu sein, einhergeht, aus ostdeutscher Sicht vorgeführt." Weil bei diesem Thema Emotionen eine große Rolle spielen war es gut, dass Altmann auch nach Bühnenschluss mit dem Publikum diskutierte (Anmerkung der Redaktion: Kaum jemand weiß, dass der ungeliebte Solidaritätsbeitrag in den allgemeinen Steuertopf fließt und zu rund 75 Prozent directement in den alten Bundesländern landet).

Abendliches Fazit

Die Schuhe, die sich die Bühnenakteure des Abend angezogen hatten, waren für keinen zu groß. In der Kultur wird gern zwischen den Professionellen und den Amateueren unterschieden, zu Deutsch etwa: zwischen den Gewerblichen und jenen, die es aus Liebe tun. Amateure, und das waren die Zittauer Bühnenbenutzer in den Rollen des Abends, müssen mit ihren Auftritten nicht ihren Lebensunterhalt verdienen. Dadurch aber unterliegen sie weit weniger einem Anpassungsdruck, der sie ständig zwischen zauberflötenartigen Publikumserwartungen und eigenem Anspruch hin- und herreißt. Im besten Glücksfall führt das zu einer künstlerischen Freiheit, deren Ergebnisse von einem anspruchsvollen Publikum honoriert werden.

Das haben Krüger & Altmann, die in Görlitz die monatliche Lesebühne Hospitalstraße betreiben und sich daraus erfolgsgestärkt schon längst auch auf ganz andere Bühnen wagen, mit dem von ihnen eingerührten Veranstaltungsformaten, darunter das erlebte "dead or alive", bewiesen.

Last not least: Gewonnen haben in Zittau die Lebenden gegen die Toten. Und das ist auch gut so.

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  • Quelle: Thomas Beier und Tina Giesenkämper | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 02.11.2017 - 08:16Uhr | Zuletzt geändert am 03.11.2017 - 12:27Uhr
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