Sind die Mauern wirklich weg?

Görlitz, 7. November 2014. Als vor 25 Jahren am 9. November die Berliner erstmals frei - manchmal nach Diskussionen mit den Grenzsoldaten, die noch immer zwischen "Pflicht" und Realität schwankten - durch ihre Mauer schlüpfen konnten, hatte die von sächsischen Städten ausgehende Friedliche Revolution den Boden dafür bereitet. Die Mauer wurde erstürmt, nachdem das implodierende SED-Regime in Gestalt von Schabowski und in chaotischer Hilflosigkeit die Reisefreiheit verkündet hatte.

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Stänker sieht Mauern, wo keine sein sollten

Auch wenn die Mauer mit ihren Grenzanlagen 25 Jahre danach physisch fast völlig verschwunden ist, lebt sie doch noch immer in vielen Köpfen - teils schon in Folgegenerationen vererbt - fort. Ossi-Wessi-Klischees scheinen unausrottbar und manche nach Deutschland (West) und Deutschland (Ost) gesplittete Statistik würde bei einer Süd-Nord-Unterteilung ähnlich ausfallen.

Andererseits sind die systemimmanenten Mängel der "DDR", die wegen zunehmender Unerträglichkeit trotz perfektioniertem Unterdrückungsapparat zum Aufbegehren der "DDR"-Bürger führten, heute vielfach vergessen oder relativiert. "Es war nicht alles schlecht..." ist zum beliebten Spruch avanciert - so, als wenn jemand den guten Geschmack des Wassers im Brechmittel lobt.

Eine Generation nach dem Ende der SED-Diktatur sehen unerfahrene Alt-Bundesbürger, naive Beitrittsbürger und Spätgeborene in den Linken, in gerader Abstammung von der SED kommend, eine "ganz normale Partei", die mit der SED-Ideologie nichts mehr zu tun habe. Entschuldigung: Die Mauer ist in vielen Köpfen nicht überwunden, in der "DDR" gewonnene Überzeugungen werden weitergegeben - aber eine Partei soll ihre Denke in so kurzer Zeit radikal geändert haben und der lupenreinen Demokratie huldigen? Wer´s glaubt, wird nicht selig werden.

Man darf die SED getrost mit allen Parteien dieser Welt, die sich einen diktatorischen Alleinvertretungsanspruch für und Unterdrückungsanspruch gegen ihr Volk anmaßen oder anmaßten, vergleichen (was nicht gleichstellen bedeutet). Man stelle sich vor, die in Deutschland bis 1945 führende Partei (übrigens auf demokratischem Wege an die Macht gekommen, um sie dann komplett an sich zu reißen) wäre nicht konsequenterweise verboten worden und hätte 1970 - also 25 Jahre nach der von ihr verschuldeten Zerstörung des Landes - einen Ministerpräsidenten gestellt. Undenkbar?

Die Mauern in den Köpfen bestehen auch an anderer Stelle weiter im vereinten Europa des grenzenlosen Schengen-Raums. Von der EU heftig bezuschusste Projekte aller Art werden nicht müde, ihren "grenzüberschreitenden" Charakter zu betonen. Dass das jene Grenzen, die doch verschwinden sollen, voraussetzt, ist kontraproduktiv. Wie wäre es mit grenzenlosen oder gar einigenden Projekten?

Das Denken in Mauern und Grenzen zeigt sich immer wieder ganz konkret. Beispielsweise wenn argumentiert wird, die Görlitzer Stadthalle könne nicht wirtschaftlich betrieben werden, weil Görlitz das Hinterland fehle, wobei mit "Hinterland" offenbar das heutige Polen gemeint ist. Warum fragt niemand, welches Interesse der polnische Teil der "Doppelstadt Görlitz-Zgorzelec", der "Europastadt", an der alten Stadthalle hat? Warum soll ein deutsch-polnisches Betreiberkonzept nicht möglich sein?

Klar ist es immer einfacher, Fragen zu stellen als die Antworten zu finden.

Aber man muss ja mal anfangen,

meint Ihr Fritz R. Stänker

Ergänzung vom 9. November 2014:
Wolf Biermann gestern im Deutschen Bundestag

Ergebnis: Ist Deutschland so "einig" wie Polen oder Frankreich?

ja, absolut (2.2%)
 
fast (17.8%)
 
eher weniger (51.1%)
 
gar nicht (28.9%)
 
Nichtrepräsentative Umfrage
Umfrage seit dem 07.11.2014
Teilnahme: 45 Stimmen
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  • Quelle: Fritz Rudolph Stänker | Fotos: Mauer: maguiss / Magui, pixabay, Lizenz CC0 Public Domain, Wachturm: Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 07.11.2014 - 08:57Uhr | Zuletzt geändert am 08.11.2014 - 06:25Uhr
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